„Die politische Integration Südosteuropas“ mit Prof. Dr. Marie-Janine Calic (Ludwig-Maximilians-Universität München) – Uni Bonn, 21. Mai 2014

Meine Damen und Herren,
liebe Frau Prof. Dr. Calic,

vor genau zehn Jahren wurde das Europa der 10 durch fünf östliche Staaten erweitert. In Polen feierten 200.000 Menschen in der Nacht vom 30. April zum 1. Mai auf der Brücke zwischen Frankfurt und Slubice das Ereignis.

Die Bilder täuschten. Die Stimmung war schon abgekühlt. Kaum die Hälfte der Bevölkerung stand mit Überzeugung hinter dem Beitritt. Noch skeptischer nörgelte man in den meisten alten EU-Ländern. Das Nörgeln geht weiter bis heute. Es schwillt an.

Dabei gäbe es heute mehr Gründe als damals, die Sektflaschen knallen zu lassen. Die Ost-Erweiterung vereinigte das gespaltene Europa. Sie machte Länder mit düsterer Wirtschaftsprognose zu stabilen, berechenbaren und erfolgreichen Partnern. Polen vorneweg.

Es vertieft sich aber auch die Entfremdung zwischen den EU-Institutionen in den heute 28 Mitgliedsstaaten. Die Leute fühlen sich überfordert. Vor dem Hintergrund von Wirtschafts-, Finanz- und Eurokrise laufen die Kosten gefühlt aus dem Ruder. Für einzelne nahe Nachbarn, von denen man sich selbst etwas verspricht, ist man zur Hilfe bereit. Ferne Nachbarn, die die Hand aufhalten, sieht man als lästige Bettler. Die französische Europaabgeordnete Sylvie Goulard bekannte: „Wir haben leider viel mehr Wert darauf gelegt, dass diese Länder sich entwickeln und zahlreiche Bedingungen erfüllen. Wir haben uns nicht die Frage gestellt, was müssen wir alten Mitgliedsländer tun, damit die EU besser funktioniert mit mehr Mitgliedern.“

In den Köpfen des Westens waren die Völker Osteuropas auch nach 1989 noch immer irgendwie „Warschauer Pakt“. Der Eiserne Vorhang war gefallen. Im geprägten Unterbewusstsein bestand er noch immer.

Die östlichen Nachbarn erlebten es anders. Sie erinnerten sich daran, dass es nicht ihre Entscheidung war, als Satelliten der Sowjetunion zu existieren. Sie betrachteten sich als Heimkehrer, die im Grunde nie aufgehört hatten, sich als Europäer zu fühlen. Klar, dass sie an die Brüsseler Türen klopften. Klar, dass die West-Europäer sie als die verarmten Verwandten empfanden. Sie versuchten, so zu tun, als hörten sie das Klopfen nicht. Außenminister Kinkel war einer der seltenen, die sich trauten, eine Wahrheit auszusprechen: „Wir waren die Hauptgewinner, 1990 und danach, wiedervereinigt, zum größten Land der Europäischen Union geworden, auch zum wirtschaftsstärksten: Jetzt haben wir eine besondere Verantwortung.“

Die meisten Regierungen und besonders die Bürger sahen im Osten, auch besonders im Süd-Osten, eine Bedrohung für den eigenen Lebensstandard. Europa war für sie nicht eine Orgel, die durch Erweiterung mehr Klänge und Möglichkeiten bekam. Das Bild war: Die Torte, die man mit noch mehr Hungrigen teilen sollte – auch noch mit solchen, die sich um ihre Stücke prügelten. Es explodierte ein besonderer Dampfkessel, den die sowjetische Herrschaft nur mit eiserner Faust zusammengehalten hatte. Die Bomben auf Sarajevo und besonders das Massaker von Srebenica schienen die Region für die nächsten Generationen mit Hass zu versorgen.

Auch als die Waffen schwiegen, konnten nur Optimisten an eine gedeihliche Zukunft glauben: Unterentwickelte Wirtschaft, Grenzkonflikte, alte Geheimdienstkader und neue Nationalisten, Regierungen ohne Durchsetzungskraft, parasitäre Oligarchen, ethnische Stammeskämpfe.

Weitsichtige Politiker, die diesen Staaten eine europäische Perspektive offen halten wollten, waren sehr einsam. Aber sie sahen in der Abschottung keine Lösung. Der Luxemburger Premierminister Jean-Claude Juncker resümmierte: „Entweder bringt die Europäische Union Stabilität nach Osten, oder der Osten bringt seine Instabilität nach Westen.“

Dass dieses Konzept schlüssig war, muss man heute nicht mehr glauben. Man kann es wissen. Wie in Osteuropa zeitigt die Aussicht auf eine Mitgliedschaft in der EU auch im Südosten positive Effekte:

  • Fortschrittliche Kräfte fühlen sich ermutigt.
  • Sie kümmern sich um nationalistische Brandherde,
  • mühen sich um den Schutz von Minderheiten
  • und zeigen ausdrucksstarke Friedensbereitschaft mit den Nachbarn.

Sie müssen das Rad nicht neu erfinden. Entwicklungen, für die Westeuropa 50 Jahre brauchte, haben sich in Polen, Tschechien, der Slowakei, Slowenien und Ungarn in knapp 15 Jahren durchgesetzt. Die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen waren besonders eifrig und erfolgreich. Es lässt sich voraussagen und jetzt schon beobachten, dass auch Südosteuropa eine positive Entwicklung nehmen wird. Aber nicht über Nacht.

Aber auch das ist wahr: Strategische Machtspiele der alten Mitglieder können eine schnelle Aufnahme Neuer in die Union durchsetzen. So geschehen mit Rumänien und Bulgarien, durch Paris stark betrieben, das offenbar eine Gegengewichtsidee verfolgte. So auch mit Slowenien und Zypern durch Deutschland und Österreich, sei es aus alter politischer Verbundenheit oder wirtschaftlicher Verflechtung. Griechenland ertrotzte den Beitritt Zyperns.

Die Eile rächt sich. Bei den frühreifen Mitgliedern können sich nun einige zurücklehnen und ihre alten Konflikte auf kleiner Flamme köcheln lassen. Brüssel kann drängen, aber nichts mehr erzwingen. In den Beitrittsverhandlungen gab es Konditionalität. Mitglieder sind Mitglieder.

Andererseits wird die EU durchaus als normgebende Instanz akzeptiert. Kommission und Parlament haben manchmal eine größere Wertschätzung als die nationalen Organe. Der polnische Publizist Adam Krzeminski meinte: „Es ist gut, dass es einen Schiedsrichter gibt, falls wir verrückt spielen. Er sagt uns: wir freuen uns, dass ihr bei uns seid, aber es gibt Konditionen, die man erfüllen muss.“

Natürlich haben nationale und nationalistisch gesinnte Regierungen nicht gern einen Schiedsrichter über sich. Deshalb durchläuft die Entwicklung fast überall eine Phase der Europaskepsis. Populistische Stimmenfänger können auch im Volk eine Anti-Stimmung erzeugen, zumal, wenn sie die Medien an ihre Leine gelegt haben. Langfristig wird der Kontinent trotzdem sicherer, die gegenseitige Kenntnis tiefer und werden die Märkte lebendiger.

Noch ein interessanter Aspekt: Die Probleme der neuen Mitglieder haben auch das Problembewusstsein der alten geschärft. Der jährliche Korruptionsbericht der EU-Kommission sollte vor allem den Neuen auf die Finger sehen. Er lenkt nun aber auch die Aufmerksamkeit auf die Schmuddelecken der Altmitglieder.

Soviel als kleiner Input. Wie beim vorigen Treffen will ich ihn als These formulieren, die unser Interesse leiten könnte:

Schon die bloße Aussicht auf eine Mitgliedschaft in der EU ist für die Staaten Südosteuropas ein Motor ihrer inneren und äußeren Entwicklung. Auch deshalb sollte man ihnen die Zeit lassen, diesen Effekt so lange, gut und nachhaltig wie möglich zu nutzen.

Mit Frau Prof. Dr. Calic haben wir die wohl kompetenteste Ansprechpartnerin gewinnen können, die es zu unserem Thema gibt. Sie hat mir schon immer mit kompetentem Rat zur Seite gestanden. Schön, dass Sie Zeit für uns haben.