„Die politische Integration Südosteuropas“ Rede – Uni Bonn, 09. April 2014

Meine Damen und Herren,

gestern stand es in der Zeitung: Die „Mütter von Srebenica“ verklagen in Den Haag die Niederlande, an der Ermordung ihrer Männer und Söhne mitschuldig zu sein. Im Balkankrieg hatten niederländische Blauhelm-Soldaten die UN-Schutzzone kampflos an serbische Truppen übergeben, die daraufhin 8000 bosnische Muslime erschossen. Es war der größte Völkermord in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.

Der Balkan gilt als klassische Krisenregion. Das Gebiet ist geografisch, kulturell und sprachlich schroff gegliedert. Schon die Römer hatten damit ihre Probleme. Jahrhundertelang war es die „Knautschzone“ zwischen Westeuropa und Byzanz, später des Osmanischen Reiches. Die umliegenden Großmächte betrachteten es als Einfluss- und Aufmarschgebiet. Ethnische und soziale Gegensätze boten Anlass für Konflikte. Immer wieder kam es zu Grenzverschiebungen, Umsiedlungen und Vertreibungen. Die Staatsmacht wurde als Fremdherrschaft erlebt. Entsprechend schwach war die Loyalität der Einwohner.

„Balkanische Zustände“ galten im Sprachgebrauch Westeuropas als rückständig, emotional, korrupt, zersplittert, chaotisch, gewalttätig,. Man sah hier gern den unzivilisierten Vorhof des Kontinents. Churchill sprach von „Europas weichem Unterleib“.

Heute reden wir politisch korrekt von „Südosteuropa“ und gehen wertneutral gegen negative Konnotationen an. Eine Initiative der Europäischen Union von 1999 hat den Namen „Stabilitätspakt für Südosteuropa.“ – Ich hatte die ehrenvolle und schwierige Aufgabe, dieses Projekt im Auftrag der internationalen Gemeinschaft zu koordinieren.

Als ich in den Hauptstädten meine Antrittsbesuche machte, erklärten mir Ministerpräsidenten, sie würden ihre Nachbarn nicht kennen und hätten auch keine Lust, sie kennenzulernen.

Das war nach dem letzten Krieg erklärlich. Die Wunden waren vernarbt, aber noch längst nicht geheilt. – Es war zugleich verblüffend, denn es hatte auch bessere Zeiten gegeben. Ein österreichischer Weltbürger wie Stefan Zweig konnte noch sagen, dass er vor dem Ersten Weltkrieg vom Schwarzen Meer bis nach Amerika reisen konnte, ohne seinen Pass vorzeigen zu müssen.

Tatsächlich gab es lange Phasen, in denen Muslime und orthodoxe oder katholische Christen, Albaner, Kosovaren, Bosniaken oder Serben friedlich Tür an Tür lebten. Und das in einer so zerklüfteten Region zum Teil kleiner Staaten, die im Innern auch noch durch ihre Lager geteilt waren. Dabei spielten religiöse Gegensätze eine viel geringere Rolle als man uns in Westeuropa glauben machte. Das kommunistische System hatte hier die Säkularisierung der Gesellschaft viel weiter getrieben als etwa in der DDR.

Wenn ich also eine erste These formuliere, die vielleicht helfen kann, unser Seminar zu befeuern und zu gliedern, dann wäre es diese:

Die tieferen Ursachen für den Krisenherd Balkan lagen nicht im Lande selbst, sondern waren das Resultat der Territorialpolitik europäischer Großmächte.

Seitdem die Türken 1683 vor Wien gescheitert waren, wurden sie von der k.u.k. Monarchie zurückgedrängt. Habsburg verstand sich als „Vielvölkerstaat“ und kaschierte damit sehr robuste imperiale Interessen. Im Nord-Osten verstärkte das russische Zarenreich den Druck. Moskau sah sich als das Dritte Rom und nutzte die Schwäche Istanbuls, um seinen Einfluss auszuweiten. Dabei spielte der Zugang zum Mittelmeer eine wichtige Rolle.

Im machtpolitischen Schachspiel des 19. Jahrhunderts ging es um Territorien. Die Völker wurden nicht gefragt. Sie begannen aber Ideen aufzugreifen, die sich auch in Westeuropa immer stärker artikulierten.

Ausgelöst von der Französischen Revolution und verstärkt durch die Romantik erstarkte das nationale Selbstbewusstsein. Es definierte sich über die Abgrenzung von den alten Regimen, aber auch von den benachbarten Völkern.

Auf dem Balkan versuchten die Serben, ein Großreich zu errichten. Nationalisten kultivierten die Erinnerung an historische Wunden wie die Schlacht auf dem Amselfeld von 1389. Sie entdeckten den Kosovo als das Herz der serbischen Kultur, wo aber inzwischen 90 % der Bewohner muslimische Albaner waren. Ein missverstandener Darwinismus brachte rassistische Ideen ins Spiel. Der Panslawismus wurde der ideologische Überbau für Großmachtträume und ein „natürliches“ Bündnis zwischen Serbien und Russland.

1914 war das Pulverfass gefüllt. Den Zündfunken lieferte das Attentat von Sarajewo eines serbischen Fanatikers auf den österreichischen Thronfolger. Die Europäische Friedensordnung brach kaskadenartig zusammen. Der Erste Weltkrieg wurde zur Ur-Katastrophe, die in einer mörderischen Kettenreaktion die meisten Kriege, Diktaturen und Verfallsprozesse des nächsten Jahrhunderts erzeugte.

Im Zweiten Weltkrieg versuchten britische Truppen auf dem Balkan eine zweite Front gegen die Achsenmächte zu eröffnen. Dies misslang und gab Stalin die Chance, die meisten Balkanstaaten der Sowjetunion einzuverleiben. Albanien und Jugoslawien gingen einen relativ unabhängigen, aber auch kommunistischen Weg. 36 Jahre hielt Tito die sechs Republiken Jugoslawiens mit der Faust zusammen. Auch nach seinem Tod 1980 blieb das Land unter kommunistischer Kontrolle.

1987 brachen Spannungen im Kosovo auf. Der albanische Teil der Bevölkerung stand unter wachsendem serbischem Druck. Die serbische Propaganda behauptete das Gegenteil. 1991 begann der Krieg. Im Friedensvertrag von Dayton 1995 wurde Bosnien-Herzegowina aufgeteilt. Serbien reagierte mit ethnischen Säuberungen. Vier Millionen Menschen wurden vertrieben, um die Fiktion eines homogenen Nationalstaats zu realisieren. Der Bürgerkrieg zerstörte Städte und Dörfer und forderte 100.000 Menschenleben.

Er veränderte noch einmal die politische Landkarte. Heute teilen sich folgende Staaten die Region: Albanien, Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Griechenland, Kosovo, Kroatien, Mazedonien, Montenegro, Rumänien und Serbien.

22 Jahre nach dem Bürgerkrieg suchen die Jüngeren eine moderne Zukunft für die Region. Sie betonen die gemeinsamen Wurzeln der Völker. Sie wollen offene Grenzen und hoffen auf den Anschluss an Europa. Sie erkennen am Beispiel der EU, dass die supranationale Struktur einer ökonomisch erfolgreichen und gesellschaftspolitisch freiheitlichen Staatengemeinschaft die lokalen Gegensätze überbrücken kann. Die Weichensteller in Brüssel können viel tun, um diese Hoffnung nicht zu vergeuden.

Es gibt Ansätze einer regionalen Zusammenarbeit, die auch den Versöhnungsprozess fördert. Ökonomische Interessen brauchen friedliche und planbare Verhältnisse. Der Tourismus wäre ein wichtiger Faktor, der auch die inneren Spannungen nivelliert.

Stichwort: Korruption. Die junge politische Klasse hat zum Teil in Westeuropa und den USA gelernt. Mancher Heimkehrer entdeckt, dass er immer noch nicht reich ist und will diesen Fehler möglichst rasch beheben. Verantwortung für das Gemeinwohl gilt als Schwäche. Vereinzelt steuern Staatsanwälte dagegen, müssen dann aber um die eigene Karriere fürchten.

Stichwort: Politische Kultur. Das demokratische System ist jung und ungefestigt. Ämter werden nicht selten als persönlicher Besitz empfunden. Das Parteienspektrum hat eine schwache Mitte. Entsprechend leidenschaftlich und dramatisch vollziehen sich Wahlkampf und Machtwechsel.

Stichwort: Vergangenheit. Die Unzufriedenen und Benachteiligten sammeln sich in und hinter Parteien, die immer noch das nationalistische Ressentiment pflegen, zum Teil mit faschistisch-extremen Varianten.

Stichwort: Neue Grenzen. Bosnien-Herzegowina ist ein Konstrukt der Diplomatie, ungeliebt bei Serben und Kroaten. Es fehlt an der Bereitschaft, die konträre Interpretation der Geschichte im Dialog aufzuarbeiten. Slowenien, Tschechien, Bulgarien und Kroatien wurden Mitglied der EU. Die Wunden der Vergangenheit sind immer noch virulent.

Serbien erlebt eine erstaunliche Entwicklung. Gerade erst brachten Wahlen Aleksandar Vucic mit absoluter Mehrheit ins Präsidentenamt. Im Balkan-Krieg war er der Vertraute und Propagandachef Slobodan Milosevics, des gefährlichsten Kriegstreibers der 90er Jahre. Vucic bekennt freimütig „Ich habe mich geirrt“.

Ich bin bereit, ihm zu glauben. Persönlich wie politisch verfügt er über die nötigen Mittel, sein Land in Richtung Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und gedeihliche Nachbarschaft auf dem Balkan zu steuern. Wenn es ihm gelingt, auch mit Korruption und organisierter Kriminalität aufzuräumen, wird Serbien aus einem Schlüsselland des Konfliktes vielleicht zum Friedensmotor der Region. Im größeren Zusammenhang der EU könnte sich Belgrad auch mit der Abspaltung des Kosovo abfinden; zweifellos eine Vorbedingung der Mitgliedschaft.

Eines erscheint mir klar. Dasselbe Europa, das den Balkan einst für seine machtpolitischen Raubzüge benutzte und so seinen Zerfall betrieb, ist jetzt aufgerufen, sich mit ebenso viel Kraft, Fantasie und Geduld für seine Stabilisierung einzusetzen.