„Unternehmenskommunikation: Der neue Zwang zur Selbsterklärung“ mit Wolfgang Reuter – HBRS, 10. Dezember 2013

Meine Damen und Herren,

ich begrüße Sie und unseren heutigen Gast. Wolfgang Reuter ist Wirtschaftsjournalist und Chef der Unternehmensberichterstattung beim Handelsblatt, zweifellos die wichtigste Adresse für Leute, die das Wirtschaftsgeschehen im Lande und in der Welt aufmerksam beobachten wollen.

Ihm zur Einführung und uns zur Erinnerung: Unser Seminar untersucht einen Verdacht. Es gibt Indizien für eine tiefgreifende Veränderung im Kommunikationsgefüge der Gesellschaft. Entscheidungswege und Abläufe folgen nicht mehr dem klassischen Muster.

Früher wurden Großprojekte der Infrastruktur in kleinen Zirkeln aus Politik und Wirtschaft verabredet und dann mehr oder weniger robust und konsequent durchgesetzt. Wenn die Regierungsmehrheit einverstanden war, wurden die nötigen Gesetze eingestielt. Die beteiligten Unternehmen konnten sich auf klare Bedingungen und langfristige Perspektiven verlassen. Die Öffentlichkeit sah Ergebnisse, nicht oder kaum die Prozesse. Wenn die Planung vorgelegt wurde, war sie kaum noch zu beeinflussen.

Die Jugendrevolte der 68ger brachte in mancher Hinsicht eine Öffnung der Gesellschaft. Die neue Generation definierte sich nicht mehr über Krieg und Nachkriegszeit. Sie wollte ihrer Zeit den eigenen Stempel aufdrücken, zunächst allerdings in einer diffusen, manchmal konfusen, allgemeinen Befindlichkeit. Es fehlte an konkreten Projekten.

Immerhin: Die Palette politischer Ausdrucksformen wurde breiter. Es gab plötzlich Straßentheater, „sit-ins“ und später Bürgerinitiativen mit Volksfestcharakter.

Diese kristallisierten sich jetzt an umstrittenen Großprojekten, noch immer mit Gesinnung und Leidenschaft, aber auch mit einem Zuwachs an Sachkenntnis. Der Widerstand beschränkte sich jedoch auf überschaubare Gruppen und wurde von den sogenannten „Ordnungskräften“ kurzgehalten. Die „gutbürgerliche“ Mehrheit beobachtete das Gerangel um Kernkraftwerke oder die neue Startbahn am Großflughafen ohne Empathie. Man traute sich selbst keine Erfolge zu oder fand sich damit ab, dass die Maßgaben der Politik „upside – down“ erfolgten und nicht „downside – up“.

Wesentlicher Faktor dieses Grundmusters waren die Medien. Es gab sie nur als „Einweg-Kommunikation“, und zwischen Ereignis und medialer Vermittlung verging viel Zeit. Das machte Spontaneität zum Einzel- und Sonderfall. Die öffentlich-rechtlichen Medien waren viel zu ängstlich und gesittet, um Volkes Stimme ungefiltert zuzulassen. Allenfalls in den Dritten Programmen tauchten neue Sendeformen auf, wo sich nach dem Motto „Anruf erwünscht“ Zuschauer in die laufende Sendung einmischen konnten. Echter Bürgerrundfunk gelang nur im lokalen Bereich der ersten Kabel-Versuche.

Das hat sich mit dem explosiven Auftauchen des Internets radikal verändert. Ich nenne nur drei seiner Eigenschaften:

Hemmungslose Grenzüberschreitung in allen Bereichen.

  • Gleichzeitigkeit von Ereignis und Wahrnehmung in einer denkbar breiten Öffentlichkeit.
  • Ubiquität durch immer mobilere und handliche Geräte.
  • Rasche Vernetzung gigantischer Nutzermengen in den sogenannten „Sozialen Netzwerken“.

Ein Schlüsselereignis wurde „Stuttgart 21“. Es folgten weitere, auch im globalen Maßstab. Die politische Klasse brauchte lange, um auf die neuen Verhältnisse zu reagieren. Sie tat und tut es – nach meinem Eindruck – durch Verzicht auf dezidierte Gestaltung. Wir beobachten eine schleichende Selbst-Delegitimierung von Regierung und Parteien. Man wartet ab, man hält hin, man verzettelt sich in verbalem Geplänkel. Man sucht nicht mehr den gemeinsamen Nenner, sondern das größte gemeinsame Vielfache. Gegenwärtig können wir das an aktuellen politischen Ereignissen studieren. Die anstehenden Jahrhundertaufgaben (Domestizierung der Finanzmärkte, Euro- und Schuldenkrise, Europaturbulenzen, Energiewende usw.), die im Wahlkampf noch als Tiger sprangen, landen möglicherweise als Bettvorleger im schwarz-roten Schlafzimmer.

Der Verzicht auf Politik in den gewählten Gremien korrespondiert mit chaotischen Verhaltensmustern an der Basis. Wichtige gesamtgesellschaftliche Vorhaben werden zwar theoretisch befürwortet, praktisch aber boykottiert, wenn sie zu Unbequemlichkeiten im Nahbereich führen.

Gleichzeitig zeigt die Großwetterlage einen Strukturwandel an, der noch am Anfang steht, aber möglicherweise geschichtsträchtig ist. Der technische Fortschritt erlaubt eine Diversifizierung und Individualisierung der Produktion, die sich dann erst über eine intelligente Vernetzung im „Internet der Dinge“ zum Großprojekt entwickelt.

Eine Gemengelage, die natürlich – je nach persönlicher Orientierung – unterschiedlich interpretiert werden kann. Eines erscheint mir klar: Wirtschaft und Gesellschaft stellen sich neue und spannende Aufgaben. Nicht nur – wie schon immer – Innovative Ideen für erfolgreiche Produkte. Jetzt auch Initiativen und eine glückliche Hand, um sich für ihre Konzepte die Akzeptanz zu besorgen, ohne die auch die besten Ideen nicht mehr durchsetzbar sind.

Es liegt auf der Hand: Hier hat die Presse eine Schlüsselrolle. Sie kann und soll aufmerksam und kritisch begleiten. Sie kann erklären und begründen. Sie kann Komplexität verringern, ohne leichtsinnig zu vereinfachen.

Lieber Herr Reuter, sind die Symptome richtig beschrieben? Wie beurteilen Sie die Situation? Welche Rolle spielt die Presse und hier besonders der Wirtschaftsjournalismus? – Sie haben das Wort.

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