„Europas Demokratie im Wandel“ – Uni Bonn, 5. Februar 2013

Verehrter Herr Vassiliadis,
meine Damen und Herren,

die mittlere Verliebtheits-Phase junger Paare dauert zwei Jahre. Das rechnen Familientherapeuten vor. Anschließend müssten stabilere Gründe her, um eine nachhaltige Beziehung zu tragen.

Das„Projekt Europa“ war nie Rausch-Erlebnis. Es war eine Vernunftehe von Anfang an. Die Basis: gegenseitiger Nutzen. Sympathie und politische Verständigung kamen als Kollateralnutzen später dazu. – Schon immer waren Handelswege und Märkte Schlagadern der Völkerverständigung.

Auf diese Weise wurde Europa das größte Erfolgserlebnis in der Geschichte des Kontinents.

Natürlich gab es Turbulenzen wegen divergierender Ziele.

Europäische Gemeinschaft beschränkt nationale Souveränität.

  • Wollen wir einen Bundesstaat oder einen Staatenbund?
  • Was ist mit der Regelungswut der Brüsseler Behörden?
  • Wie weit geht eine europäische Außenpolitik? Bilaterale Beziehungen stören die Gemeinschaft.
  • Gibt es eine Grenze des Wachstums durch nicht mehr handhabbare Komplexität?
  • Wie funktioniert das Zusammenspiel der politischen Organe (Parlament / Kommission / Gerichtshof)?
  • Haben wir ein europäisches Demokratie-Defizit?
  • Währungsunion als Chance oder Gefahr?

Die aktuelle Krise geht an die Substanz der Gemeinschaft.

Jahrelang lebten viele Staaten über ihre Verhältnisse. Vernünftiger Ausgleich zwischen privatem Reichtum und öffentlicher Armut wurde vernachlässigt.

  • Nationale Politik agierte im Sprint bis zur nächsten Wahl, nicht im Langlauf für stabile Strukturen.
  • Zwischen Nord und Süd entstand ein gefährliches Gefälle.
  • Das freie Spiel der globalen Kräfte entmündigt die politischen Instanzen.
  • Ein massives Gerechtigkeitsdefizit polarisiert die Gesellschaften. Radikale Bewegungen haben Zulauf.

Zurzeit sind es die Banken, die im Urteil der Bevölkerung Hauptschuldige am Chaos sind. Das zeigen Untersuchungen, die forsa für die BAPP gemacht hat. Die Krise hat für die meisten einen Namen: „Profitgier der Banken“. Die Menschen wollen Europa deutlicher als viele es erwarten. Aber die EU-Praxis
schreckt sie ab.

Die Banken müssen nicht alle Konstruktionsfehler der EU-Währungsunion verantworten. Sie haben sie aber für sich genutzt. Das Credo, „Wenn der Euro scheitert, scheitert Europa“, weckt die Illusion, wenn man den Euro rette, sei Europa gerettet.

Längst ist mehr verloren als Vertrauen in die bestehende Wirtschaftsordnung. Kaum jemand traut der EU-Bürokratie noch zu, ihr zentrales Versprechen halten zu können: Die faire Verteilung von Lasten und Wohlstand.

Die ältere Generation zehrt von den Errungenschaften der letzten 60 Jahre.

Als Oscar Wilde eines Tages seine Arztrechnung bekam, seufzte er: „O Gott, ich sterbe über meine Verhältnisse!“ Lange lebte Europa über seine Verhältnisse. Stirbt es jetzt über seine Verhältnisse? – Wir von der BAPP wollen eine wirksame Therapie. Dafür lohnt die Arbeit.

Der mentale Schaden ist durch technische Sanierung kaum zu beheben. Bert Brecht schrieb einmal: „Wir brauchen unser tägliches Brot, und wir brauchen unsere tägliche Gerechtigkeit.“

Wir wissen: Eine Krise kann im Zusammenbruch enden. Sie kann aber auch die Voraussetzung für Entwicklungsschübe sein.

  • Kann die Politik verlorenen Handlungsspielraum zurückgewinnen?
  • Hat sie den Mut zu durchgreifenden Reformen, die ja auch ihr Disziplin und Realismus abverlangen.

Demokratie lebt von Transparenz und Teilhabe.

Wie müsste ein Europa aussehen, das mehr Demokratie wagt und die anstehenden Probleme ohne kräftezehrende Grabenkämpfe bearbeitet?

Ist das EU-Parlament nach seiner Aufwertung im Lissabon-Vertrag stark genug, seine Kontrollfunktionen wahrzunehmen?

Wird es die Identifikationsinstanz einer offenen Gesellschaft von 500 Millionen Bürgern sein, oder bleibt es Endlager für Politiker der nationalen Szene?

Ist die Mitte der nationalen Parteilandschaften stark genug, um Radikalisierungen zu begegnen?

Welche Rolle spielen mächtige Interessengruppen, die im Hintergrund agieren?

Werden wir eines Tages die europäische Öffentlichkeit haben, in der sich 27 Länder, Völker und Kulturen verständigen?

Dass Deutsche und Griechen, Briten und Polen, Schweden und Portugiesen „enger“ zusammenrücken, sehen die einen als Illusion und die anderen als Irrweg. Man fühlt sich nicht glücklich vereint, sondern auf Gedeih und Verderb aneinander gekettet.

Demokratischer Wandel in Europa bedarf einer starken emotionalen Schubumkehr. Die muss tiefer ansetzen als bei Vertragsparagraphen und täglich neuen Kompromissen. Das Mantra von der Alternativlosigkeit aller Entscheidungen glaubt niemand mehr.

Demokratie ist nicht die Lösung, aber sie ermöglicht Lösungen. Sie erscheint uns oft alltäglich, glanzlos, mühsam und träge, aber bisher ist sie die intelligenteste Methode, das Problem der Macht zu regeln.

Anders als in autoritären Staatsformen ist die Kritik an den Schwachstellen der Demokratie nicht deren Schwächung, sondern ihre Erfüllung.

Zu all dem kann unser heutiger Gast sehr kompetent Auskunft geben. Nicht nur als geborener Europäer, sondern auch aus der wichtigen Perspektive des Verantwortung tragenden und sich verantwortlich fühlenden Gewerkschafters. Das gibt seinem Wort zusätzliches Gewicht.

Seit 2009 ist Michael Vassiliadis Vorsitzender der IG Bergbau, Chemie, Energie. – Dass da möglicherweise auch eine Herzkammer für das Schicksal Griechenlands schlägt, macht seine Ausführung zusätzlich spannend.

Herr Vassiliadis, Herr stellvertretender Präsident unserer BAPP – herzlich willkommen!

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