„Medien – insbesondere das Internet und die Wirkungen auf Politik und Gesellschaft“ mit Roland Tichy (Chefredakteur WiWo) – Uni Bonn, 10. Oktober 2012

Spruch und Widerspruch am Beispiel des sogenannten Armutsberichtes

Gast: Roland Tichy – Chefredakteur WIWO

Einführung Bodo Hombach

Meine Damen und Herren,

als die Bomben auf Köln fielen, waren die romanischen Kirchen der Stadt nach kürzester Zeit nur noch rauchende Trümmerhaufen. Der Dom, obwohl er das größte Ziel bot und viele Treffer abbekam, stand immer noch. Warum? Eine romanische Kirche ist ein Massebau. Sie besteht vor allem aus Wänden. Der Explosionsdruck kann nicht entweichen. Eine einzige Bombe genügt, um das feste Gebilde zu zerlegen.

Anders die gotische Kathedrale. Sie hat statt der Wände vor allem Fenster. Sie ist kein Masse-, sondern ein Gliederbau. Pfeiler und Gewölbe sind ein schlankes und komplexes Gewebe aus Kraftlinien. Der Druck einer Bombe entweicht durch die leicht zerbrechlichen Fenster. Der eigentliche Bau bleibt stehen.

Im Kalten Krieg suchten amerikanische Militärs Wege, auch nach einem Atomschlag elementare Kommunikation sicher zu stellen. Vermutlich dachten sie nicht an gotische Kathedralen, aber sie hatten eine analoge Idee. Ein weit und locker gestreutes Netz von Kanälen, also auch ein Gewebe aus Kraftlinien, könnte dem Angriff widerstehen. Lokale Zerstörungen würden nicht gleich das Ganze vernichten.

Das Ergebnis nannten sie „Interconnected Network“. Im Volksmund wurde daraus das „Internet“.

Im begonnenen Wintersemester wollen wir uns mit dem neuen Medium beschäftigen. Uns interessieren dabei nicht die technischen Gegebenheiten, sondern die Folgen für Politik und Gesellschaft.

Das ist erstaunlich. Vor – sagen wir – fünf Jahren hätten die meisten noch mit den Schultern gezuckt. Folgen für Politik und Gesellschaft? Ein technisches Spielzeug zum einfachen Austausch von Botschaften? Ein leichter Zugang zu allerlei Informationen? Ein großer Briefkasten also und ein großes Lexikon? – Was sollte daran „Folgen“ haben? Die Gesellschaft war ahnungslos. Die Politik fühlte sich nicht zuständig. Nur wenige begriffen, dass das neue Medium die globale Zivilisation in ihren Grundfesten erschüttern würde.

Das hat sich rasant geändert. Heute bezweifelt niemand mehr die Notwendigkeit einer großen, breiten und vielleicht sogar tiefen Internet-Debatte. Was da mit dem Charme und der Skrupellosigkeit einer Naturgewalt über uns hereinbricht, bietet ungeheure zivilisatorische Entwicklungschancen. Es bedroht aber auch das – ohnehin nicht sehr stabile – humane „Genom“, das die Weltkulturen in langen Zeiträumen und unter großen Mühen angesammelt haben, nicht als gesicherten Besitz, sondern als wählbare Alternative. – Immerhin!

Aber Vorsicht! – Umbruchszeiten bringen die Absetzbecken der kulturellen Evolution in Unordnung. Eine tolle Chance für Hobby-Analysten und Endzeitfreaks. Ohnehin kurzsichtig, fischen sie gern im Trüben und sprayen ihr „Menetekel“ an die Wand. Sie erinnern mich an die Anekdote von dem amerikanischen Fallschirmspringer.

Der hatte 1000 Sprünge erfolgreich absolviert, und Präsident Roosevelt wollte ihn dafür mit einem hohen Verdienstorden auszeichnen. Er holte ihn sogar persönlich in der Präsidentenmaschine ab. Beim Landeanflug auf Washington verkrampfte sich der Mann. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn, und angstvoll starrte er vor sich hin. „Ist Ihnen nicht gut?“ fragte Roosevelt besorgt. – „Es ist die Angst“, presste der Mann hervor. „Die Angst?“, fragte Roosevelt, „wovor haben Sie denn Angst?“ – „Bitte, verstehen Sie“, antwortete der Veteran, „ich bin noch nie normal gelandet.“

Wir Deutschen haben keine große Begabung, normal zu landen. Goethe nannte uns „tatenarm und gedankenvoll“. Uns fehlt es an angelsächsischem Pragmatismus und an romanischer Leichtigkeit. – Der amerikanische Historiker Gordon A. Craig kannte uns besser als wir selbst. „In keinem anderen Volk der Welt“, so schrieb er, „ist der Glaube an Murphys Gesetz so verbreitet, dass alles, was schief gehen kann, früher oder später auch schief gehen wird. Von der versöhnlichen amerikanischen Antwort, dass man immer jemanden findet, der es wieder in Ordnung bringt, haben sie noch nie gehört.“

Dem wollen wir vorbeugen.

Wie schon in zwei Semestern erprobt und auch Ihnen versprochen, werden wir das viel zu große Thema in „Probegrabungen“ erschließen. An möglichst konkreten Beispielen und unter Einbeziehung von Experten, die dem Thema nahe stehen, weil es sich massiv in ihren Berufsalltag
drängt. Es lauert auf ihren Schreibtischen. Es debattiert mit an ihren Konferenztischen. Es fordert sie ziemlich frech und ungeduldig zu politischen, kulturellen, ökonomischen und ethischen Entscheidungen heraus.

Die Dramaturgie der Veranstaltungen gliedert sich in drei Schritte:

  • Zunächst werde ich versuchen, das Semester-Thema unter einem speziellen Blickwinkel zu umreißen, nötige Sachinformationen liefern und vielleicht schon ein paar Interesse leitende Fragen oder Thesen formulieren.
  • Dann kommt unser Gast zu Wort. Er wird uns, ungeschützt und gestützt auf seine Erfahrungen, mit seiner Sicht der Dinge konfrontieren.
  • Schließlich folgt ein offener Diskurs. Er wird – so hoffen wir – die Komplexität des Themas weiten, aber auch Kriterien finden, die es handhabbar machen.

Das Internet ist ein neues Medium. Wir werden also über Medien sprechen, über Wirklichkeit und Wahrnehmung, über Mechanismen und Strukturen der Öffentlichkeit.

Ich empfehle – angeregt durch Jürgen Habermas – das Phänomen „Öffentlichkeit“ nicht als einen gegebenen, einen statischen Raum zu betrachten, den man nur gestalten oder befüllen muss. Habermas definiert es als einen dynamischen Raum, der erst dadurch überhaupt entsteht, dass man ihn beansprucht.

Erst wenn der Bürger seine private Meinung auf Straße und Platz äußert, setzt er sich in ein Gegenüber zur Macht. Diese kann ihn dann nicht mehr als bloßen Empfänger von Verkündigung und Anordnung behandeln. Zwischen ihnen ist also ein Raum entstanden, der nur so lange existiert wie die Gesellschaft den Mut und die Findigkeit hat, ihn zu behaupten. Wenn sie darin erlahmt, schrumpft er wieder. Wenn sie ihn aufgibt, verzichtet sie auf die Mitgestaltung der öffentlichen Dinge. Die Straße gehört dann wieder dem Marschtritt der Regimenter oder dem obrigkeitlichen Ausrufer.

Medien sind der Transmissionsriemen dieses Geschehens. Sie sind Faktum und Faktor zugleich. Sie entstehen und agieren aufgrund technischer Möglichkeiten und gesellschaftlicher Eigenschaften. Zugleich wirken sie auf beides ein.

All dies ist Menschenwerk. Es unterliegt der Fehlbarkeit unserer Spezies, der Subjektivität unserer Interessen und der Vergänglichkeit unserer Haltungen und Meinungen. – Deshalb kommt es darauf an, dass Journalisten und Redakteure, die Gatekeeper also des öffentlichen Raumes, nach überprüfbaren Kriterien arbeiten und sich ihrer Verantwortung stellen. Andernfalls entsteht ein Bild von unserer Welt, das der Wirklichkeit nicht entspricht. Es entsteht erst in den Köpfen, dann in den Strukturen und Verhaltensregeln der Gesellschaft.

Kaiser Wilhelm II. ließ sich jeden Morgen zum Frühstück die aktuellen Weltnachrichten servieren, von der Schlossdruckerei auf Büttenpapier gedruckt und in Saffianleder gebunden. Den Sammlern und Redakteuren lag viel an der guten Laune des Herrschers. Also sorgten sie für eine bekömmliche Auswahl und verdauliche Formulierungen. – Man könnte sich über Höchstdero Wirklichkeitsverlust schieflachen, aber am Ende war man plötzlich im Ersten Weltkrieg. Und der war erst der Anfang.

Und nun das Internet:

  • Weitet sich der öffentliche Raum ins Uferlose und entzieht sich so der politischen Gestaltung?
  • Ist es mein Fenster zur Welt, oder die Welt in meinem Zimmer, in meinem Kopf, in meinem Verhalten?
  • Bietet es mir ein Instrument, das meine Schwächen (Informationsarmut, Sprachbarriere, Vergesslichkeit) überwindet, oder erzeugt es eine Massenhaftigkeit mit anarchischen Zügen?
  • Entwickelt sich hier ein globales Wertesystem, oder unterläuft es alle Standards der gewachsenen Kulturen?
  • Erlaubt es uns ein grenzüberschreitendes Verstehen, oder prallen hier enorme Ungleichzeitigkeiten ungebremst aufeinander, was irrationales Verhalten und internationale Konflikte fördert?
  • Ist es eine global wirksame Privatheit oder der umfassendste Zugriff anonymer Mächte und Interessen?

Unser Gast ist Roland Tichy. Chefredakteur der Wirtschaftswoche, unbequemer Gast in Talkshows. Kein Mann feuriger Thesen. Kein Manifestierer mit Schaum vor dem Mund. Er ist Pragmatiker. Das Unwort „alternativlos“ kommt ihm nicht über die Lippen.

Er stellt einen Vorgang ins Licht, der die deutsche Öffentlichkeit erst kürzlich beschäftigte: „Lebenslagen in Deutschland“ – Der 4. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesrepublik.

Rund eine Woche vor der Veröffentlichung wurde er wie eine tickende Bombe behandelt. Es gab gezielte Indiskretion. Also hatte die Regierung wohl etwas zu verbergen. Die Presse „enthüllte“. Also musste es wohl ein Geheimnis sein. Und so erfuhren Millionen Hartz IV–Empfänger und prekär Beschäftigte,  dass es sie gibt.

Was lief hier ab? – Wie wirkte das Internet darauf ein? Spruch und Widerspruch. – Roland Tichy, Sie haben das Wort.